Behindert - wie gehen die betroffenen Kinder damit um?

Für viele Eltern bricht bei der Diagnose, ihr Kind ist behindert, oder retardiert, eine Welt zusammen. Hier sollen erste Hilfestellungen gegeben werden mit dieser erschütternden Diagnose umgehen zu können.

Behindert - wie gehen die betroffenen Kinder damit um?

Beitragvon KatrinHH » 11/4/2010, 14:30

Hallo zusammen!

Ich hoffe, ich bin mit meinem Anliegen in der richtigen Rubrik gelandet.

Wie gehen eure behinderten Kinder mit dem Behindert-Sein um? Nehmen sie wahr, dass sie anders sind als die Geschwister oder das Kind aus dem Nachbarhaus? Wie äußern sie es mit / ohne Sprache / Gesten / Mimik ...?

Bei Jacqueline ist es öfter Thema und ich komme manchmal an meine Grenzen, wie ich damit umgehen soll. Bei ihr sind es "nur" die Beine, die immer mehr ihren Dienst versagen, sonst ist sie körperlich, geistig, sprachlich fit. Momentan hat sie eine zickige Phase, die sich mischt mit "Ich will nicht behindert sein", "Ich will nicht im Rollstuhl landen, habe Angst" oder "Es ist mir egal, wenn andere meine Orthesen sehen, ich möchte ein Kleid / einen Rock anziehen".

Wie geht man als Eltern damit um? Manchmal könnte ich auch heulen, manchmal würde ich ihr gern auf kindliche Art erklären, das ein Rollstuhl das bessere Hilfsmittel wäre. Sie würde weniger hinfallen, kann in der Schule nicht umgeschubst werden, könnte sich allein ausserhalb der Wohnung von A nach B bewegen, was mit einem Rehabuggy nicht geht.
Beim Rehabuggy muß immer jemand schieben, manchmal legt sie die Hände an die Räder, will sich fortbewegen. Ich muß dann immer aufpassen, ihr nicht weh zu tun, sage ihr, sie soll es lassen, die Hände werden schmutzig.

Als ich letzte Woche zu meinem Ex-Mann in einem Beratungsgespräch sagte, Jacqueline wäre ein Fast-Rollikind, schluckte er seine Worte herunter, aber Blicke sagen manchmal mehr als Worte. Für mich sagte der Blick: Wie kannst du sowas nur denken oder sagen! Er hat zu allem grundsätzlich eine andere Meinung.

Ihr ist sehr bewußt, dass ihre Beine immer weniger können, manchmal sitzt sie auf einer Bank, schaut anderen Kindern beim Spielen zu oder setzt sich in die Sandkiste / auf eine Schaukel, während andere um sie herum spielen, sie mehr oder weniger oder gar nicht ins Spiel integrieren. Würden diese Kinder jetzt weggehen oder fangen und verstecken spielen, hätte sie kaum eine Chance, hinterher zu kommen oder mitzumachen.
Auch ist es deshalb nicht einfach, etwas geeignetes zu finden, was sie kann, woran sie Spass hat, was altersgerecht ist. Der Hamburger Dom (großer Jahrmarkt) ist teuer und einige Fahrgeschäfte fahren zu schnell wieder los, bevor ein gehbehindertes Kind mit / ohne Begleitung darin Platz genommen hat. Ausflüge / Spaziergänge gehen ohne Rehabuggy gar nicht mehr, wenn sie doch mal länger laufen muß, versagt schnell die Beinkraft. Indoorspielplätze haben wir getestet, sind mehr Stress als Spass für Jacqueline.

Ich könnte noch mehr Beispiele nennen, aber es ist wohl klar geworden, was ich meine. Alternativ nur drinnen zu sitzen, zu basteln und Spiele zu spielen ist auf Dauer auch keine Lösung. Ihr weniger werdendes Gleichgewicht macht uns allen sehr zu schaffen.


Katrin
Katrin (10/74), Tetraspastik / Diplegie und Epilepsie ohne Hilfsmittel; Jacqueline (9/02), HSP, eine seltene genetische fortschreitende Erkrankung, seit Sommer 2010 mit Rolli. Sie hat es vom Vater geerbt, lebt auch bei ihm.
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Re: Behindert - wie gehen die betroffenen Kinder damit um?

Beitragvon Mone80 » 11/4/2010, 14:49

Hallo Katrin, dies ist ein ganz schwiriges Thema und wird von jedem Kind unterschiedlich verarbeitet und betrachtet - dies ist sehr von seinen Fähigkeiten und auch deren Diagnosen abhängig.

Ein Kind welches schon immer mit den Defiziten zu kämpfen hat geht anders damit um, wie ein Kind was schon einmal alles konnte und dann abbaut. Dieses Kind welches alles schon mal kannte hat es meiner Meinung nach schwieriger da es bewusst erleben konnte, was es schon alles konnte und auch bewusst miterleben kann was mit ihnen passiert. Ich stelle mir dies auch echt schrecklich vor.

Es ist ein wirklich schwieriges Thema was wirklich gut aufgefangen werden muß - ev. wäre eine Art Spieltherapie in Begleitung eines Psychologen so eine Möglichkeit. Oft ist es für Kinder einfacher in einem geschützten Rahmen über Dinge zu sprechen und auch zu leiten wie in alltäglichen Situationen.
Dort wäre es möglich Trauer, Wut, Freude, Lustlosigkeit, Müdigkeit und vieles mehr im emotionalen Sinne, dort z.T. los zu werden oder ... .
Ich habe immer wieder Kinder in Behandlung denen es gut tun würde oder denen es auch gut tut.
Leider ist es oft schwierig schon den vollen Wochenplan noch ein zusätzlichenTermin einzubauen. Evt. wäre es auch möglich so etwas in größeren Abständen mit ein zu planen!

Eine andere gute oder auch zusätzliche Möglichkeit wären Treffen mit Kinder die auch Erkrankungen haben wo sich Fähigkeiten reduzieren, das muß ja nicht die gleiche Erkrankung sein (was ja recht schwierig ist).

Sorry etwas länger geworden.

LG Mone80
Ergotherapeutin-Castillo Morales Therapeutin, Betreuung ein Schule für Praktisch Bildbare
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Re: Behindert - wie gehen die betroffenen Kinder damit um?

Beitragvon strunztina » 11/4/2010, 14:57

Also, Joy weiß bestimmt noch nicht, was das Wort behindert bedeutet, und macht sich deshalb noch keine Gedanken darüber,...

W a s aber auffällt, ist, das, wenn sie etwas trotz etlicher Versuche nicht schafft, was andere in ihrem Alter können, wird sie richtig wütend,.... :motz: ...
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Re: Behindert - wie gehen die betroffenen Kinder damit um?

Beitragvon Vreni » 11/4/2010, 15:33

Es ist wirklich ein schwieriges Thema, vor allem da du recht alleine dastehst.

Mein Rat ist, sucht euch profesionelle Hilfe, evtl. mal bei der Behindertenhilfe o.ä. nachfragen. Es ist leider ein zusätzlicher Termin, aber vielleicht kann man phasenweise einen anderen Termin streichen, denn viel hilft nicht unbedingt viel.

Zu überlegen wäre auch, ob man schon einen Rollstuhl anschaffen/leihen könnte, damit sie entdecken kann welche neuen Möglichkeiten er ihr eröffnet.

Liebe Grüße

Vreni
Ergotherapeutin aus und mit Leidenschaft in einer Praxis und einer Schule für Praktisch Bildbare Kinder

Weiterbildung in Sensorische Integrationstherapie(Grundkurs), Psychomotorik, Konzentrationstrainerin nach Lauth und Schlottke, Bobath-Therapeutin (Erwachsene) und viel viel Kleinkram
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Re: Behindert - wie gehen die betroffenen Kinder damit um?

Beitragvon Irene » 11/4/2010, 17:04

Hallo Katrin,

ich kenne diese Probleme, von denen Du sprichst, sehr genau.

Auch bei uns war es lange Zeit ein Problem, mit dem Handicap von Stefan umzugehen. Für ihn, für uns.

Da uns bei Stefan prognostiziert wurde, er würde nie laufen können, waren wir zwar einerseits mit seinen Fortschritten sehr zufrieden, andererseits war natürlich auch sichtbar, wo seine Grenzen lagen. Da wir eigentlich nur mit "gesunden" Kindern zusammen waren, fielen diese Grenzen natürlich umso mehr auf.

Irgendwann hat für uns der Fortschritt überwogen. Dafür hat Stefan Probleme damit bekommen, "anders" zu sein. Immer mehr merkte er selbst, dass er engere Grenzen hatte, als andere. Und das hat zu solchen psychischen Problemen geführt, dass er massive Selbstmorddrohungen von sich gab. Er war damals erst 9 Jahre alt - und diese Drohungen waren sehr ernst gemeint.

In dieser Zeit wußte ich oft nicht, wie ich auf seine psychischen Schwankungen auffangen sollte. Mal saß ich daneben, habe mit ihm mitgeweint. Ein anderes Mal hab ich ihn doch etwas schärfer angeredet, dass er sich mal wieder einkriegen solle. Da wäre jedes Kopfstreicheln ein weiterer Todesstoß für ihn gewesen. Und - ehrlich gesagt - so manchesmal habe ich es verwünscht, dass er vom geistigen Zustand her in der Lage ist, sein Handicap zu begreifen!

Mittlerweile ist Stefan zu einem gefestigten Jugendlichen geworden. Er spricht offen über seine körperlichen Probleme, geht aber damit nicht "hausieren" oder nützt es als Entschuldigung. Er hat Freunde, die ihn so annehmen, wie er ist.

Dahin zu kommen, war für uns nicht leicht. Die Zeit hat es so ergeben. Es hätte auch andersrum kommen können. Ich hoffe für Euch, dass Eure Zeit ebenfalls für Euch arbeitet und kann Dir nur den Tipp geben, viel mit Deiner Tochter offen zu sprechen!

Ich hoffe, das Ganze war jetzt nicht zu wirr?!

Liebe Grüße
Irene
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und Sonja (11/91)
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Re: Behindert - wie gehen die betroffenen Kinder damit um?

Beitragvon KatrinHH » 13/4/2010, 18:39

Danke für eure bisherigen Antworten.

Vreni schrieb, ich würde damit fast alleine dastehen, was meiner Meinung nach nicht stimmt, Irene bestätigt es. Die meisten Kinder hier sind möglicherweise so schwer behindert, dass sich darüber keine Gedanken machen oder sich dazu äußern (können). Aber es gibt eben auch die Kinder mit Hemiparese oder Tetraspastik (wie ich selbst in den 70ern), die geistig und sprachlich nicht eingeschränkt sind.

Von mir selber weiß ich, dass ich so etwa mit 12 begriffen habe, das ich irgendwie anders bin und anderen 1000 Löcher in Bauch gefragt habe. Vorher war mir das weniger bewußt, da die Antiepileptika erst in der Grundschule langsam ausgeschlichen wurden und ich erst danach einen "klaren Kopf" hatte.
Heute weiß ich, dass ich es wohl leichter in der (Regel)schule gehabt hätte, wäre meine Spastik für alle auf den 1. Blick sichtbar gewesen. Ich brauche keinerlei Hilfsmittel - zum Gück - aber meine bis heute verkürzte Muskelatur hat mich besonders im Sport an meine Grenzen gebracht. Habe oft zu hören bekommen, ich sei ja nur zu faul, über die Geräte zu springen, in Wahrheit konnte ich es nicht. Meine Schulzeit war nicht schön, erst ein Jahr nach meiner Einschulung wurde die erste integrationsklasse in Hamburg eingerichtet, für die meine Eltern zwischen 1978 und 1981/82 die Vorkämpfer waren mit anderen zusammen. Mit einem Hilfmittel, egal welcher Art, hätten früher oder später alle begriffen, dass ich nicht faul bin oder keine Lust habe, im Sport mitzumachen. Ich saß immer zwischen den Stühlen, mit einem Bein behindert, mit dem anderen Bein nichtbehindert.

Gruß, Katrin
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Re: Behindert - wie gehen die betroffenen Kinder damit um?

Beitragvon Irene » 13/4/2010, 19:10

KatrinHH hat geschrieben: Ich saß immer zwischen den Stühlen, mit einem Bein behindert, mit dem anderen Bein nichtbehindert.

Gruß, Katrin


Der Spruch ist gut! Er trifft genau unsere Lage!

Danke dafür!

Liebe Grüße
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