Projekt Leben mit Handikap

Für Eltern mit "blinden" oder sehbehinderten Kindern und den daraus resultierenden Fragen der Eltern

Re: Projekt Leben mit Handikap

Beitragvon Beatrice » 3/1/2010, 18:37

Liebe Jean

Auch ich lebe wie Du mit einer Sehbehinderung und habe eben über Dein Projekt gelesen, in welchem Du Dich engagierst. Es ist mein Traum, auch einmal so etwas zu machen, denn ich habe in der Regel einen sehr guten Draht zu Kindern und finde den gegenseitigen Respekt voreinander und die Möglichkeit, das Unbekannte kennen zu lernen enorm wichtig.
Wir haben in der Schweiz auch so ein Projekt. Ich gebe Dir den Link dorthin
http://www.malsehn.ch/
Das ganze wird von Procap Schweiz koordiniert, einer sehr sinnvollen und für unsereins engagierte Organisation.
Vielleicht kannst Du auf der Seite noch Anregungen finden und bestimmt ist man auch offen für Kontakte mit Gleichgesinnten jenseits der Landesgrenze.

Ich selber habe ganz spontan einmal in der Blindenschule in Basel, wo ich zur Schule ging um Braille, Lormen, PC-Bedienung ohne Maus mit Jaws oder ZoomText zu lernen, ein wenig Schrankenabbau und Aufklärung betrieben und das war ein Erlebnis, das ich nie mehr vergesse. Vielleicht interessiert es Dich oder andere, wie das ging, darum kopiere ich unten den detaillierten Bericht darüber rein, den ich damals geschrieben habe.


Gestern, am 3. Juli 2007, an der Info Flück (für Schüler
obligatorische, schulinterne Information) kamen 4 Buben, ca 10 Jahre alt, machten dumme Faxen im Hof und klopften an unser Fenster. Herr Chudozilow (Ausbildungskoordinator) ist dann raus und hat denen ziemlich wild gesagt, dass sie verschwinden sollten. Einer der Kids hatte sogar die Frechheit zu sagen, er sei auch blind und Herr Kudi wurde noch wilder, verständlicherweise. Das fruchtete aber gar nicht, denn kaum hatte er den Rücken gedreht, waren schon 2 durch den Haupteingang rein in unsere Schule, worauf er noch wütender die Buben fortjagte.
Ich hatte nach der Info Flück eine Freistunde und ging rüber in den Lebensmittelladen. Die Buben sassen beim Breite-Hotel (auch in unserem Hof) auf den Stühlen an einem Tisch und gerade als ich vorbeikam, stiess einer einen markerschütternden Schrei aus. Dachte noch so, kann ja Zufall sein, dass der gerade jetzt schreit und ging in den Coop, aber als ich zurückkam, schrie der genau wieder, voll provokativ.
Ich hätte sie auch ignorieren können, aber ich bin grad hin und habe sie gefragt, ob sie ein Problem haben. Ob ihnen jemals jemand mit einem weissen Stock etwas zuleide getan hat oder warum sonst sie hier herumbrüllen. Ich habe Ihnen auch erklärt, warum das so schlimm ist für blinde Menschen, wenn in ihrer Umgebung geschrien wird und sie nicht sehen können, warum.
Als eine Breite-Mitarbeiterin kam, um die Buben zu vertreiben, bin ich ihnen hinterher und habe gesagt, ich will auf meine Frage jetzt eine Antwort haben.
Sie sagten, ihnen sei es langweilig, worauf ich antwortete, dass ich eine Freistunde habe und wir uns ein wenig unterhalten könnten zusammen. Erstaunlicherweise machten sie mit und blieben bei mir stehen, sagten aber nichts. Also fragte ich sie aus, ob sie denn gar nicht wissen, was tun. Nein, sagten sie, die Eltern arbeiten und
sie haben keinen PC. 3 der Buben waren dunkelhäutig (Typ Inder oder Marokkaner) Erst hatten die Buben noch Du zu mir geagt, plötzlich schlug es auf Sie um und einer fragte: Was machen Sie denn in ihrer Freizeit, wo sie doch nichts sehen und ehrlich gesagt, liess ich sie in dem Glauben, dass ich NICHTS sehe, einfach um ihnen aus der Sicht einer sehr schlecht sehenden Person Auskunft zu geben. Ich sagte, dass ich Musik hören kann, aber auch gerne spazieren gehe. Ich erzählte Ihnen vom Barfuss-Pfad in Birsfelden (unmittelbare Nähe zu unserer Schule), und dass ich es spannend finde, mit den Füssen zu erraten, worauf ich laufe. 3 der Buben kannten den nicht. Ich sagte auch, dass ich früher gerne Fahrrad fuhr. "Das machen wir auch gerne, sagten sie. Aber es regnete ja so. Ich konnte verstehen, dass sie darauf keine Lust hatten im Moment. Fussball spielten sie auch gerne, sagten 2 und die andern nickten. Und dann erzählten sie mir, sie wären gestern am 1.Ferientag ins St.Jakobstadion Basel gegangen zum Ferienprogramm, aber da habe man sie fortgejagt, weil sie nicht angemeldet gewesen seien. "Wo wir auch sind, wir sollen immer verschwinden."
Der grösste versuchte mich immer noch ein wenig zu provozieren.
Er fragte mich, was denn 5 + 5 gäbe und ich habe ihm erklärt, dass blinde Leute keine Blöden sind. Er fragte, was machen Sie in dem Haus?
und ich sagte, dass es eine Schule ist, wo wir lernen, wie man am PC ohne Maus zurecht kommt und dass wir PC's haben, die sprechen können und uns vorlesen, dass wir Punktschrift lernen und andere nützliche Sachen. "Ich bin auch blind"- sagte er dann nochmals, worauf ich ihn fragte, warum er das sagt. Es ist nicht lustig, weißt Du. Da
meinte, er, das wisse er, aber er wolle eben mal irgendwo dazugehören.
Offenbar fehlte dem Bub eine Identifikationsmöglichkeit. Ich bat ihn und die andern, mal die Augen zuzumachen- ganz fest und mir zu sagen, was sie hören.
Sie machten mit!
"Wie hören Sie denn, was das Auto für eine Farbe hat?", fragte einer und ich sagte, das mit der Farbe ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass Du hörst, dass ein Auto kommt.
Und plötzlich kamen die Fragen: "Waren Sie schon immer blind?"
Als ich das mit der Netzhautablösung erwähnte, fragte einer: "Und dann haben Sie dieses Netz in der Hand gehabt, hat es geblutet?" - es tönte nicht mehr so, als wollten sie mich verulken, und ich habe Ihnen erklärt, dass das Netz im Auge ist und ich früher noch gut gesehen und in der Migros gearbeitet habe.
Da fragte der Grösste: "Waren Sie traurig, als Sie blind geworden sind?" Eine bemerkenswerte Frage für einen Buben, der 20 Minuten zuvor noch herumschrie und dem alles egal war, finde ich. Ich habe Ja gesagt und er sagte, das glaube ich.
Bevor ich dann wieder rein musste, habe ich sie gebeten, künftig nicht mehr im Hof oder anderswo blinde Menschen anzuschreien, sondern besser einfach normal Grüezi zu sagen.
Ich weiss nicht, ob es dauerhaft was gebracht hat, dass ich mir ein wenig Zeit für diese offenbar eher wenig betreuten Buben nahm, aber ich hatte ein gutes Gefühl dabei. Sie sagten mir nett: Uf Wiederseh und der Grösste sagte auch noch danke, bevor sie abzottelten.

Ich bin der Ansicht, dass man sich zwar über die Buben ärgern kann, aber dass solches Verhalten auch immer eine Art Signal ist um Aufmerksamkeit zu erlangen und je mehr andere Leute schreien, dass sie einfach verschwinden sollen, umso lauter und aufdringlicher werden sie provozieren.

Das ist nicht als Kritik gemeint an Herrn Chudozillow, auch ich war erst versucht, den Buben den Marsch zu blasen.
Es traf sich gut, dass ich Zeit hatte und sie mir nehmen konnte. Und wenn es beiden Seiten letztlich den Umgang miteinander erleichtert hat, bahnt sich, optimistisch gedacht, vielleicht in diesem Fall noch Gutes an.

Nachtrag: Die Buben sind nie mehr bei uns im Hof gewesen um zu stören. 2 von ihnen habe ich schon öfter wieder gesehen und sie sagen mir Grüezi und wie geht's und wenn ich Zeit habe, spreche ich ein wenig mit ihnen.
So denke ich auch im Nachhinein immer noch, dass ich das gut gemacht habe.

Bin gespannt, was Du dazu meinst?

Ich hoffe indes, liebe Jean, dass sich Euer Projekt erhalten hat und etwas engagiertere Leute gefunden werden konnten, als jene, die nur herumsitzen und die nicht die leiseste Ahnung von der Realität des Lebens mit einer Sehbehinderung haben.

Finde es übrigens wie meine Vorschreiber einfach super, dass Du das machst

Liebe Grüsse aus der Schweiz sendet Dir und den andern Mitlesern in diesem Thema

Beatrice
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Re: Projekt Leben mit Handikap

Beitragvon ehm. Userin » 8/1/2010, 20:58

Hallo Beatrice,

danke für Deine Nachricht,
Ich schreibe Dir mal in den nächsten Tagen eine ausführliche PN.
Besser wäre natürlich Du würdes mir bitte eine E-Mail mit einer Addi von Dir schicken.
Ich bin hier nicht mehr oft, da ich nach der Umgestaltung des Forums massive Probleme mit der Orientierung auf der HP habe.

Nur mal so viel.
Das Projekt wurde leider eingestellt, aus kosten Gründen.
Da unsere Stadt jetzt einen Behindertenbeauftragten hat, so dieser es übernehmen.

Leider haben wir kein Fahrzeug nebst Fahrer um die Materialien von A nach B zu transportieren.
Aus diesem Grunde können wir es vom Bllindenverband aus nicht selbst weiter führen.

Herzliche Grüße
Jean
ehm. Userin
 

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